INTERVIEW

«Schönheit ist oft außen, und die Hölle ist innen.»

Agnes ist eine junge Frau. Hochsensibel, still, der Natur verbunden. Nicht die besten Voraussetzungen, wenn man im 18.Jh. aus bescheidensten Verhältnissen kommend in eine Bauernfamilie einheiratet, die vor allem auf die jugendliche Arbeitskraft baut. Agnes ist eine von unzähligen Frauen, die in einer von Härte, Strenge und Gottesfurcht bestimmten Welt einen Ausweg aus ihrem Fremd-Sein in der Welt fanden. Inspiriert von historischen Verhör-Protokollen erzählen Veronika Franz und Severin Fiala in DES TEUFELS BAD unter der Wucht von Schönheit und Grauen von der Enge und der Befreiung aus einem einfachen Leben.


Hinter dem Titel DES TEUFELS BAD verbirgt sich im historischen Kontext Ihres Films, der um die Mitte des 18. Jahrhunderts spielt, eine sehr konkrete Bedeutung. Welche?
 
VERONIKA FRANZ:
Der Titel bezieht sich darauf, dass man im Volksmund des 18. Jhs. über Menschen, die unter Melancholie und Depression litten, sagte, dass sie im „Bad des Teufels gefangen“ seien. Man interpretierte diesen Zustand damals spirituell, religiös und dachte, dass Menschen depressiv seien, weil sie ihr Herz dem Teufel geöffnet haben. Es geht also in unserem Film, der mehrere Schichten hat, u.a. um das Phänomen der Depression. Was auch ein Thema unserer heutigen Zeit ist. Sie ist einer der häufigsten unerkannten und am wenigsten behandelten Krankheiten. In unserer Leistungsgesellschaft geht es ja auch oft darum, dass Menschen nicht mehr mithalten können, dass man nicht hinein oder dazu passt, oder dass das, was man als Mensch an Talenten mitbringt, gerade von der Gesellschaft nicht gefordert und geschätzt ist. Allesamt Ursachen für Depression; damals wie heute.  
 
 
Es gibt Forschungsergebnisse, die als thematische Inspirationsquelle für Ihren Film gedient haben und die den grausamen Strafvollzug der Todesstrafe in ein nie betrachtetes Licht und vor allem die bisher Ungesehenen der Geschichtsschreibung – viele Frauen aus einfachsten Verhältnissen – ins Zentrum rücken. Worum geht es da?
 
VERONIKA FRANZ:
Wir sind auf einen Podcast von Kathy Stuart, einer US-Historikerin mit deutschen Wurzeln, gestoßen und waren sofort von ihrer Forschung – dem mittelbaren Selbstmord, suicide by proxy, wie es auf Englisch heißt – fasziniert. Es ist ein bisher unbeleuchtetes Kapitel in der Geschichte: Frauen ­– es war mehrheitlich Frauen – die sterben wollten, haben damals andere Menschen umgebracht, um dafür hingerichtet zu werden. Es war eine Form eines Selbstmords auf Umwegen. Eine Art rebellischer Akt, der die Dogmen der Religion bzw. der Kirche in gewisser Weise ins Gegenteil verkehrt hat.  
 
SEVERIN FIALA: Ja, denn Selbstmord war damals als die schlimmste aller Sünden verboten, weil es die einzige ist, die man nicht mehr beichten und also auch nicht bereuen kann. Jemanden zu töten hatte hingegen die Todesstrafe zufolge und vor einer Hinrichtung gab es die Möglichkeit einer letzten Beichte und Reue; nach der Absolution durch den Priester konnte man dann von Sünden gereinigt immer noch in den Himmel kommen. Im übrigen gibt es das Phänomen in gewisser Weise auch heute noch oder es wirkt zumindest noch nach: Auch heute ist es bei religiös motivierten Selbstmordattentaten oft so, dass sie mit einem Wunsch zu sterben, also einer Depression der Täter, einher gehen, also einen Weg darstellen, im Einklang mit religiösen Dogmen sterben zu können und dann ins Paradies einzuziehen.
 
 
Es hat sich um ein in Europa verbreitetes Phänomen gehandelt. Wo haben Sie die Fälle gefunden, die Sie zur Geschichte Ihrer Protagonistin Agnes inspiriert hat, die Sie in Oberösterreich um 1750 situieren? Welche Geschichten haben Sie besonders berührt und haben letztlich die Basis für Ihr Drehbuch geliefert?
 
VERONIKA FRANZ:
Genau genommen ist Agnes‘ Geschichte eine Mischung aus einem österreichischen und einem deutschen Fall. Es gab das Phänomen des mittelbaren Selbstmords auch in Frankreich, England, Skandinavien, Deutschland und Österreich, d.h. in katholischen wie protestantischen Ländern. Wir haben Kathy Stuart, die in San Francisco lehrt, kontaktiert; sie hatte sich für ihr „Lebensthema“ durch unzählige Gerichts- und Klosterarchive gearbeitet und hat uns, nachdem wir sie von unseren redlichen Absichten überzeugen konnten, ihr Archiv geöffnet, für das sie zwischen 300 und 400 Fällen zusammengetragen hatte. Wir hatten so die Inquisitionsprotokolle zur Verfügung, die damals transkribiert wurden. Uns ist dann der Fall einer Oberösterreicherin besonders nahe gegangen, die vom Inquisitor dreimal verhört wurde, weil er verstehen wollte, warum sie das gemacht hat. Wir waren auch sehr verblüfft, was man im Jahr 1750 alles gefragt hat, bis hin zu Wie war der Sex mit dem Ehemann? Die Täterin, die verhört wurde, war eine ganz einfache Bäuerin und schildert ihr Leben, spricht über ihren Mann, ihre Schwiegermutter, ihre eigene Familie und die neue Welt, in die sie geheiratet hat. Es hat uns gerührt und beeindruckt, dass eine so einfache Frau aus dem 18. Jh. direkt und in einer Sprache, die ziemlich wörtlich im Dialekt transkribiert ist, zu uns spricht. Es hat uns sehr ins Heute verwiesen, wenn sie über ihre Träume, Sehnsüchte, Ängste und Unsicherheiten spricht.
 
SEVERIN FIALA: Es ist eine Art Lebensbeichte einer Frau, der man unter normalen Umständen niemals zugehört hätte. Die nie im Leben überhaupt gefragt worden wäre, wie es ihr geht, hätte sie nicht jemanden umgebracht. Befindlichkeit war damals kein Thema. Man musste arbeiten und funktionieren, besonders im bäuerlichen Milieu. Es lag so viel tolles, genaues Material vor, sodass wir bei den ersten Drehbuchversionen – und wir haben viele geschrieben – sehr nahe an diesem Verhörprotokoll dranbleiben wollten, weil es uns so fasziniert hat. Die Lebens- und Innenwelt der Figur in filmische Bilder zu übersetzen, hat lange gedauert.
 
 
Vom Landleben im Mühlviertel des 18. Jh, und damit den Ungesehenen der Geschichte gibt es möglicherweise wenig literarische wie bildliche Quellen. Worauf haben Sie die Entwicklung Ihrer Bilderwelt von DES TEUFELS BAD gestützt?
 
VERONIKA FRANZ:
Die gängige Geschichtsschreibung ist sehr ungerecht, weil sie nur von sogenannten „besonderen“ Menschen, von Adeligen und Reichen, von Erfindern und Künstlern und Kriegsherren handelt. Aber nicht von Bauern, Handwerkern, Arbeitern, der Masse der Menschen. Wir haben insgesamt drei Historiker:innen in unsere Recherche eingebunden, herausgekommen ist, dass es nur wenige Quellen aus dem 18. Jh. gibt, die uns die damalige bäuerliche Lebensweise vermitteln. Wir hatten dank der Protokolle die Stimmen dieser Frauen und die Historiker:innen haben uns ermutigt, aus dem Material, das wir gut kannten, unser Eigenes zu machen. Wir haben uns an viele Dinge gehalten und dann auch unsere Freiheiten genommen. Niemand weiß schließlich, wie es wirklich war. Wir haben uns dann mit dem bäuerlichen Milieu beschäftigt über Bauernmuseen und jetzt tätige Bauern. Wir mischen ja immer in unserer Besetzung: Für die Landbevölkerung, die zu sehen ist, haben wir viele Laien besetzt. Für Wolf, den Mann von Agnes, wollen wir einen echten Bauern. Es hat sich herausgestellt, dass die bäuerliche Arbeit (außer bei Bergbauern vielleicht) heute nichts mehr mit der von damals zu tun hat. So sind wir dank unserer Ausstatter auf die Karpfenfischerei gekommen, die tatsächlich seit dem 12. Jahrhundert auf gleiche Art und Weise gemacht wird, auch wenn man heute mit Plastikkübeln und Gummistiefeln im Wasser steht.
 
SEVERIN FIALA:
Wir haben nach Dingen gesucht, die wir nicht inszenieren müssen. Ziel war für den ganzen Film, dass er nicht historisierend ist im Sinne der Nachstellung eines Gemäldes, das selbst eine idealisierte Darstellung einer Wirklichkeit ist. Wir haben versucht, möglichst viele Dinge möglichst echt aus dem Heute zu nehmen, damit man sich auch nicht so leicht von dem Gezeigten distanzieren kann. Irgendetwas sollte sich so echt anfühlen, dass der Eindruck entsteht, es geht uns auch heutzutage noch etwas an.
 
 
Sie haben in einer schneefreien kalten Jahreszeit gedreht, und es wird einem allein beim Zusehen kalt – die Fischereiarbeit im kalten Wasser, das Wäsche-Waschen im Bach, die ungeheizten Steinhäuser erzählen viel von der Gefühlskälte, die das Leben der Menschen bestimmt. War dies ein bestimmender Faktor Ihrer Inszenierung?
 
VERONIKA FRANZ:
Diese Beobachtung freut uns sehr. Wir haben im Waldviertel gedreht, in der alten Grenzregion zu Tschechien, wo es noch einige Häuser ohne Strom gibt. Severin hat sich in die Wetteraufzeichnungen der letzten zwanzig Jahre eingelesen, die uns große Kälte versprochen haben. Unser Drehwinter allerdings war ein warmer und sonniger Winter. Es gab weder Schnee noch Nebel, so wie wir es gerne gehabt hätten, wir haben dennoch versucht, dass die Kälte über die Bilder spürbar wird.
 
SEVERIN FIALA:
Wir wollten das Gefühl einer sich einschleichenden Kälte hervorrufen: Es war unser Plan, dass der Film im Spätsommer mit der Hochzeit beginnt und nach und nach zu einer Reise in eine monochromere, kältere Welt wird. Weil es dem entspricht, was die Figur erlebt, der die Freude abhanden kommt und deren Welt sich kalt und farblos anfühlt.
 
VERONIKA FRANZ: Aus diesem Grund war auch die Finsternis ein großes Thema. Wir haben wieder auf 35 mm gedreht. Ziel war (bis auf wenige unvermeidliche Ausnahmen bei Nacht), kein künstliches Licht aufzustellen. Martin Gschlacht hat sehr oft bis an die Grenze belichtet. Dazu kam, dass wir Probleme mit dem Kopierwerk hatten und ohne die Möglichkeit zu überprüfen, ob es hell genug war, weiterarbeiten mussten. Für Martin als Kameramann eine sehr schwierige Aufgabe. Er hatte Vertrauen ins Material und sich selbst wahnsinnig viel getraut. Wir sind ihm sehr dankbar, dass er sich auf unseren Wunsch nach maximaler Dunkelheit eingelassen hat. Andere hätten gesagt, so kann man nicht arbeiten. Martin war bereit an die Grenzen dessen zu gehen, was mit Filmmaterial möglich ist.
 
 
Ihr habt erwähnt, dass ihr euch nicht von historischen Malereien inspirieren lassen wolltet, die eine idealisierte Wirklichkeit repräsentieren. Der Film lässt eine Welt von großer Unwirtlichkeit, aber auch unglaublicher Schönheit entstehen. War dies auch ein Weg, der spirituellen Dimension der Hauptfigur und der Geschichte einen Raum zu geben?
 
VERONIKA FRANZ:
Genau. Die Natur ist etwas Unverrückbares und für viele Menschen etwas Göttliches. Menschen finden darin zu sich, ihre Seele, und können, wenn sie gläubig sind, auch mit Gott sein.
 
SEVERIN FIALA: Es macht die Geschichte etwas trauriger und tragischer, wenn die Welt so schön ist, aber außer der Hauptfigur, die der Realität etwas entrückt ist, niemand fähig ist, diese Schönheit wahrzunehmen. Der einzigen, die dazu fähig ist, wird nicht zugehört.
 
VERONIKA FRANZ: Schönheit ist sehr oft außen, und die Hölle ist innen.
 
 
Das ist ein interessanter Punkt. Denn DES TEUFELS BAD scheint der Versuch eines authentischen Nachempfindens einer Lebenssituation, der man bisher nie Beachtung geschenkt hat. Ihr Zugang zum Horrorgenre hat bisher diese Erzählmittel genutzt, um innere Zustände zu verdeutlichen. In dieser Form des historischen Films wird sehr deutlich, wieviel Grauen in der äußeren Welt steckt.
 
VERONIKA FRANZ:
DES TEUFELS BAD ist für uns auch aus inhaltlichen Gründen kein Horrorfilm geworden. Der Stoff stellte ursprünglich einen Gerichtsfilm dar, und wir haben auch darüber nachgedacht, ob wir daraus einen Genrefilm machen sollten. Wir sind aber zu dem Schluss gekommen, dass wir diese historische Figur, die über die Gerichtsprotokolle zu uns spricht, nicht verraten wollen, indem wir dramaturgisch Dinge zuspitzen und Mechanismen bedienen, die man im Horrorfilm benutzen muss.
 
SEVERIN FIALA: Es gefällt uns der Gedanke, dass der Film nun eine schwer einzuordnende Mischung ist und auf verschiedenen Instrumenten spielt. Natürlich zeigen wir Momente des Grauens, auch um den inneren Zustand der Figur zu schildern. Ein Drehbuch über eine depressive Hauptfigur zu schreiben, ist wahnsinnig fordernd, weil man sich schwer mit der Figur identifizieren kann. Es ist eine passive Figur, deren Verhalten weder das Umfeld noch die Zuschauer nachvollziehen können. Mit so einer Figur eine Erzählung zu schaffen, ist kompliziert. Daher haben wir uns entschieden, an manchen Stellen ins Innenleben reinzuschauen, und da drinnen herrscht eben das Grauen.
 
 
Wie haben Sie gleichzeitig versucht, die Spiritualität und auch Fragilität von Agnes spürbar zu machen?
 
VERONIKA FRANZ:
Das haben wir in großen Teilen Anja Plaschg zu verdanken, sowohl ihrer Hingabe als Schauspielerin als auch inhaltlichen Ideen in der Vorbereitung. Dass Agnes ein sensibler und scheuer Mensch war und eine Anlage zur Melancholie gehabt hat, ist aus den Gerichtsprotokollen hervorgegangen. Erst bei der Beichte vor ihrer Hinrichtung gibt sie uns Einblick und Auskunft über sich selbst. Diese Idee, einer Figur immer näher zu kommen, hat uns sehr gut gefallen. Sie ist eine sehr ungewöhnliche Erscheinung. Man kann aber auch die anderen verstehen, die von ihrem Verhalten befremdet sind, wenn sie durch den Wald streift, auf der Wiese liegt, obwohl sie eigentlich arbeiten sollte.
 
SEVERIN FIALA: Die zweite schwierige Figur war die Schwiegermutter, bei der man sehr schnell der Gefahr läuft, ins Klischee zu kippen. Wir haben dem schon durch die Besetzung entgegengewirkt, weil Maria Hofstätter sie sehr menschlich und nachvollziehbar verkörpert, und wir wollen auch den Druck, den das Umfeld und die Gemeinschaft auf sie ausüben, spürbar machen. Niemand ist frei. Alle sind unter Druck.
 
VERONIKA FRANZ: Wenn man Maria Hofstätter engagiert, hat man jemanden an Bord, die für den Film denkt, spielt und handelt. Sie ist auf einem Bauernhof aufgewachsen, und wir haben durch sie viel über bäuerliche Herangehensweisen erfahren. Sie ist auch mit David Scheid zu einem oberösterreichischen Bauern auf die Alm gefahren und hat dort mit ihm gemeinsam gearbeitet und Dialekt trainiert. Er ist ja eigentlich Niederösterreicher. Mit Anja Plaschg hat sie am Drehmotiv die Küche eingerichtet, so wie es praktisch ist. Anja und sie haben am Ende unglaublich gute Getreidebreie über einem bloßen Herdfeuer und ohne weitere Zutaten machen können.
 
 
Wie sind Sie zu dem Schluss gekommen, mit dem Thema Kindsmord so umzugehen, wie Sie es im Film tun?
 
VERONIKA FRANZ:
Wir vertreten den Standpunkt, dass man Menschen fordern muss.
Wir zeigen keine Gewalt um der Gewalt willen, aber wenn Gewalt eine Rolle in einer Geschichte spielt, halte ich es für falsch wegzuschauen. Es muss auch dem Zuschauer wehtun, wenn Gewalt passiert. Es dem Publikum zu ersparen, halte ich für eine verlogene Schönmalerei. Natürlich sind manche Dinge furchtbar anzuschauen. Aber es ist auch in Wirklichkeit furchtbar.
 
SEVERIN FIALA: Die beiden Morde, die vorkommen, sind ja nicht erfunden, sondern historisch verbrieft und auch da haben wir versucht, uns an die Gerichtsprotokolle zu halten Das Kino, das wir persönlich erleben wollen, ist eines, das einen auch körperlich angreift und tiefer geht. Da muss man als Zuschauer auch bereit sein, sich dieser Gewalt auszusetzen. Das ist das Kino, nach dem wir persönlich suchen. Erschüttern und Aufrütteln.  
 
 
Die Hauptdarstellerin Anja Plaschg, die auch die Filmmusik komponiert hat, hat Sie zunächst in Ihrem Hauptberuf Musikerin interessiert. Wie hat sich die Zusammenarbeit weiterentwickelt?
 
VERONIKA FRANZ:
Ich mochte immer schon die Musik von Anja Plaschg aka Soap&Skin, hatte einige Interviews mit ihr gesehen und war fasziniert. Ich hatte das Gefühl, sie würde irgendwie gut zu uns und unserer Arbeit passen. Sie ist ein spiritueller, sehr eigenwilliger und sensibler Mensch, eine große Künstlerin. Als wir uns Gedanken zur Filmmusik gemacht haben und dass sie auch einen Bogen ins Heute spannen sollte, haben wir sie kontaktiert und ihr das Drehbuch geschickt. Nach der Lektüre hat sie uns ein Mail geschickt, das uns sehr, sehr nahe gegangen ist.
 
SEVERIN FIALA: Wir hatten in den Jahren der Projektentwicklung mit einer anderen Schauspielerin gearbeitet, die letztendlich absagen musste. Für einen Moment fällt dann ein Film, den man sich jahrelang mit einer Person vorgestellt, in sich zusammen; mit Anja ist er wieder auferstanden. Das war auch für uns aufregend, weil etwas Neues entstanden ist.
 
VERONIKA FRANZ: Anja hat eine unglaubliche Begabung, sie kann sehr diszipliniert sehr oft Szenen wiederholen. Wie eine Musikerin, die immer wieder das gleiche Stück spielt. Da ist sie sehr perfektionistisch. Gleichzeitig kann sie sich auf eine Szene mit offenem Herzen einlassen, als hätte sie sie nie zuvor gespielt.
 
SEVERIN FIALA: Sie ist eine große Performerin. Sie will alles echt machen und spüren beim Dreh. Ins kalte Wasser steigen, durch Dornengestrüpp gehen. Das ist uns sehr entgegengekommen, weil wir’s auch gerne möglichst echt haben. Anja ist auch unheimlich naturverbunden. Die Schmetterlingsebene im Film erzählt davon. Dass ihr im Oktober, November im Waldviertel die Schmetterlinge zufliegen, das hat sie mitgebracht. Bei den Bildern mit den Schmetterlingen ist nichts filmisch getrickst, sondern alles echt.
 
VERONIKA FRANZ: Anja bringt eine Art von Magie ein. Wir wussten, dass sie ein großes Charisma hat, ob sie alle Szenen, die wir geschrieben hatten, auch spielen konnte, wussten wir vor dem Dreh noch nicht. So wie jeder Mensch Grenzen hat, hat das auch jeder Schauspieler, jede Schauspielerin. Als Regisseur:innen versuchen wir uns dem zu öffnen, was jede:r mitbringt. Wir haben uns dann zu dritt auf diese gemeinsame Arbeit eingelassen. Es gab sehr schöne Momente, aber auch harte Aufgaben für Anja, sie musste durch traurige, durch sehr herausfordernde Momente gehen.
 
 
Sehr aufwühlend ist die Schlussszene, die eine Mischung aus Freudenfest und Abscheu darstellt. Sie lassen einen Dialog mit einem Mädchen entstehen, das mit Agnes singt – ein Mädchen, das potenzielles Opfer oder eine Projektion in Agnes’ Kindheit sein könnte und tauchen die Zuschauer:innen in einen Taumel aus Grauen und Ausgelassenheit wo, sich alle Gefühle aufzulösen scheinen.
 
SEVERIN FIALA:
Genau in dieser Ambivalenz wollten wir den Film enden lassen und wir wollten die widersprüchlichen Gefühle, mit denen man durch diese Geschichte zurückgelassen wird, alle auf einmal hochkochen lassen.  
 
VERONIKA FRANZ: Wir haben sehr lange nach diesem Mädchen und auch nach dem Buben gesucht, Elias Schützenhofer, der in unserem Film ebenfalls eine wichtige Kinderrolle spielt. Sie hatten beide jeweils nur einen oder zwei Drehtage und mussten sofort „oscarreif“ spielen, ohne im Lauf des Drehs in ihre Rolle hineinwachsen zu können.
 
SEVERIN FIALA: Wir haben bis jetzt bei jedem Film mit Kindern gearbeitet. Für diesen Film hat es bedeutet, dass sie sofort etwas sehr Künstliches spielen musste, das in der Historie liegt und fernab ihres Alltags oder ihrer Lebenswelt war. Wir haben uns über 1000 Bewerbungen angeschaut, viel ausprobiert und natürlich auch viele enttäuschen müssen. Das war vielleicht der ungewöhnlichste Aufwand, den wir für den Film betrieben haben. Elias musste dann beispielsweise in einem Castingraum spielen, dass er in einer Felsspalte eingeklemmt ist und große Angst hat. Er hat einen unglaublichen Draht zu seinen eigenen Gefühlen und kann sie hervorholen, wenn es gefordert ist. Ein richtiger Profi, dabei war es seine erste Filmrolle.  

 
In welcher Hinsicht hat Sie dieser Film in Fortführung von Ich seh Ich seh und The Lodge in eine andere Sphäre des filmischen Erzählens geführt?
 
SEVERIN FIALA:
Dieser Film lässt sich am wenigsten von unseren bisherigen Filmen in eine Schublade stecken. Wir sind zufällig über sein Thema gestolpert und mussten ihm mit einer größeren Offenheit begegnen, um ihm gerecht zu werden. Insofern ist es ein freierer, schwierig zu etikettierender Film, damit sind wir sehr glücklich.
 
VERONIKA FRANZ: Wir wollten weder einen Kostüm-, noch einen Horrorfilm, noch eine dokumentarische Arbeit machen. Was wir von der Härte der bäuerlichen Arbeit gezeigt haben, vermittelt physisch, was wir an Kälte, Anstrengung, an Fremd-Sein in der Welt zeigen wollten. Und es hat mich ehrlich gesagt auch interessiert, mich damit auseinanderzusetzen, dass auch Frauen imstande waren und sind, physische und entsetzliche Gewalttaten zu verüben.
 
SEVERIN FIALA: Es gibt einen Lieblingsfilm von Veronika und mir. Für uns ist dieser Film – Die Ballade vom Narayama von Shohei Imamura – ein Erzählideal. Der Film erzählt eine Welt in ihrer Stille, ihrer Visualität und Gewalttätigkeit, ohne dies je um der Gewalt willen, sensationsheischend oder der Horroreffekte wegen zu tun. Es passieren so unfassbare Dinge, die sich in dieser Welt, die sehr geschlossen erscheint, ganz alltäglich anfühlen. Dies zu sehen, überwältigt einen immer wieder.


Interview: Karin Schiefer
Februar 2024





«Wir zeigen keine Gewalt um der Gewalt willen, aber wenn Gewalt eine Rolle in einer Geschichte spielt, halte ich es für falsch wegzuschauen. Es muss auch dem Zuschauer wehtun, wenn Gewalt passiert. Es dem Publikum zu ersparen, halte ich für eine verlogene Schönmalerei.»