INTERVIEW

«Wer wird diesen Leuten endlich Einhalt gebieten?»

Daniel Hoesl und Julia Niemann richten in ihren filmischen Arbeiten immer wieder den Fokus auf das Kapital und seine Kräfte, die das System des sozialen Ausgleichs aus dem Ruder treiben. Ihr Protagonist in VENI VIDI VICI ist ein eleganter Milliardär, ein begeisterter Familienmensch, ein kaltblütiger Killer. In der Welt, die er sich geschaffen hat, hindert ihn nichts, stets in der Sphäre des Lichts zu stehen, denn Gesetze, die für alle gelten, sind längst außer Kraft gesetzt.



Der Kapitalismus, seine Auswüchse und seine Gewinner lassen Sie thematisch nicht mehr los. Warum ist das so?
 
DANIEL HOESL:
Weil wir die Verlierer sind in diesem Spiel und weil es wichtig ist, darauf hinzuweisen, wenn sich etwas ändern soll, dann haben wir es in der Hand.
 
JULIA NIEMANN: Wir sind beide Arbeiterkinder, d.h. Geld hat für uns beide immer eine Rolle gespielt. Alles hat seinen Preis.
 
 
An den Anfang stellen Sie ein Zitat von Ayn Rand: The point is, who will stop me. Wer ist diese Autorin? Haben Publikationen von ihr auch einen Anstoß für dieses Drehbuch geliefert?
 
JULIA NIEMANN:
Ayn Rand ist in den USA die Gallionsfigur des neoliberalistischen Denkens. Ein spannendes Detail ist, dass sie verarmt und allein in ihrer Wohnung gestorben ist.
 
DANIEL HOESL: Sie hat als Reaktion auf ihr Aufwachsen in der Sowjetunion einen übermächtigen Staat samt Sozialhilfe immer abgelehnt und den Individualismus gepredigt, wo jeder für sich selbst verantwortlich ist.
 
JULIA NIEMANN: In ihren Romanen geht es immer um sehr selbstsüchtige Figuren, die damit durchkommen. In den USA ist sie ein Classic, wer studiert, hat The Fountainhead, aus dem unser Zitat stammt, und Atlas Shrugged gelesen.
 
DANIEL HOESL: Die interessantere Auseinandersetzung in der Drehbuch-Phase war für mich aber die mit dem österreichischen Ökonomen Joseph Schumpeter. Er hat Begriffe geprägt wie Entrepreneurship, Disruption und Creative Distruction, die bis heute unser Wirtschaftsleben bestimmen. Er hat ein Buch geschrieben mit dem Titel Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie. Darin stellt er sich die Frage: Glauben Sie, dass der Kapitalismus überleben wird? Die Antwort ist „Nein“, weil seiner Ansicht nach der Kapitalismus sich selbst auffressen wird, wenn er nicht reguliert wird. Im Kapitel Sozialismus stellt er ebenfalls die Frage des möglichen Überlebens des Sozialismus. Die Antwort ist „Ja“, weil es die einzige Lösung ist, um dem sich selbst auffressenden Kapitalismus zu entkommen. Daher gibt es in VENI VIDI VICI diesen Schumpeter-Plot. Denn es geht in diesem Film definitiv um die Frage Wer wird diesen Leuten endlich Einhalt gebieten? Wer, wenn nicht wir?
 
 
Es gibt seit wenigen Wochen in Österreich einen treffenden Bezug zur Aktualität, mit der Pleite der Signa Holding. Gab es auch zu Beginn der Drehbucharbeit Bezüge zur Realität, die sie inspirierten, sich in VENI VIDI VICI mit der Figur des Investors auseinanderzusetzen? 
 
DANIEL HOESL:
Ich betrachte René Benko gar nicht als gutes Beispiel. Es gibt sehr viel interessantere Leute, wie z.B. Nicolas Berggruen, ein Milliardär, der mich schon für meinen Film WinWin inspiriert hat. Darüber hinaus geistern auch andere Milliardäre im Kopf herum, wie Elon Musk, der insofern „vertreten“ ist, als unser Protagonist die größte Batteriefabrik Europas baut. Der Unterschied zwischen Milliardär und Millionär ist der, dass beim Milliardär nicht mehr um Geld, sondern nur noch um Macht und Machterhalt geht. Ihre Macht ist größer als die von Staaten. Um diese Übermacht geht es mir. Es ist ethisch problematisch, dass immer weniger Menschen immer mehr und immer mehr Menschen immer weniger besitzen.
 
 
Ist die satirische Überzeichnung der einzige formale Zugang, um dieser Realität Rechnung zu tragen?
 
DANIEL HOESL:
Die Situation ist ernst. Um eine Parabel zu formulieren, muss man es paradox überzeichnen. Ich erinnere an Donald Trump, der gesagt hat, er könne auf der Fifth Avenue jemanden erschießen und würde trotzdem keine Wählerstimmen verlieren.
 
 
Wie haben Sie sich der Welt der Superreichen angenähert?
 
JULIA NIEMANN:
Wir haben in der Recherche für unseren Film WinWin einen österreichischen Superreichen getroffen. Er hat uns in seiner Villa empfangen. Es hing ein riesiger Helnwein im Atrium, im Hintergrund ist die Nanny mit zwei Kindern, die Prinzessinnenkostüme trugen, durch den Raum gelaufen. Dann kam der Butler mit zwei Gewehren in der Hand vorbei. Diese Nachbarschaft von Familienglück und beiläufigen Vorbereitungen zur Jagd haben Ideen für VENI VIDI VICI getriggert. Es war anders als bei den letzten Filmen, wo sich die Recherche mit dem Casting und der Motivsuche vereint hat. Wenn wir auf interessante Gesprächspartner:innen gestoßen sind, war unser Reflex gleich, sie selbst oder ihr Haus ins Narrativ einzubauen. Diesmal hatten einen anderen Zugang.
 
DANIEL HOESL: Als mal eine Spenderliste der ÖVP publik wurde, sind wir draufgekommen, dass wir die meisten davon persönlich von unseren Recherchen kennen und dazu kam, dass wir für unseren Film Davos zweimal beim Weltwirtschaftsforum dabei sein konnten. Wir haben einen sehr guten Einblick in diese Welt der Superreichen und haben auch für diesen Film wieder sehr viel Unterstützung von sehr wohlhabenden Leuten bekommen, die es uns ermöglicht haben, an Orten zu drehen, zu denen wir sonst keinen Zutritt gehabt hätten …
 
JULIA NIEMANN: … ... oder Menschen zu casten, die Dinge können, die viele Leute nicht können, wie z.B. Polo Spielen.
 
DANIEL HOESL: Ich beschäftige mich seit zwölf Jahren mit den Superreichen, muss gleichzeitig immer auf mein Arbeiterkind-Dasein verweisen. Die Freude an der Arbeit kommt sicher noch aus Zeiten, wo ich für Ulrich Seidl Recherche gemacht habe, wenn ich auch bei ihm in ein ganz anderes Milieu eingetaucht bin. Es wird mir auch nicht langweilig, dieses 1%, das das Simulacrum für unser Dasein liefert, im Fokus zu haben. Sie werden als Role-Models verehrt; wir versuchen die fragwürdige Aussage „Der Erfolg gibt ihnen Recht“ in Frage zu stellen.
 
 
Sie steigen mit einer Sport-Metapher ein – den Radfahrer, der mit ehrlichem Einsatz die Steigung bewältigt hat, trifft Maynards zynische Mordlust, beim Polo ist der Sieg einem fiesen Foul durch Maynards Tochter zu verdanken. Der Sport gilt als das Feld der Fairness schlechthin. Was hat es zu bedeuten, wenn auch hier die Regeln nicht beachtet werden?
 
JULIA NIEMANN:
Auf alle Fälle war das der Gedanke des Einstiegs. Für wen gelten die Spielregeln im Sport, den wir treiben? Der Radfahrer als Sinnbild für die Leistungsgesellschaft strampelt sich ab, Maynards Tochter Paula hingegen, muss sich nicht an Regeln halten und gewinnt auf diese Weise immer mehr.
 
 
Amon Maynard ist dramaturgisch betrachtet der Gegenentwurf zum Pechvogel. Berührt die Geschichte eines Winners, dem kein Schicksalsschlag, kein Gesetz Einhalt gebietet, auch ethische Konventionen des Erzählens?
 
JULIA NIEMANN:
Der Film widersetzt sich dem aristotelischen Erzählmodell, dass eine Figur immer eine Katharsis durchleben muss, um dann zu einem besseren Menschen zu werden. So ist es in der Realität ja auch nicht, schon gar nicht für die Superreichen. Wenn sie einen Fehler machen, wird der eben ausgebügelt oder übersehen.
 
DANIEL HOESL: Mir war an unserem Protagonisten immer klar, dass er selber fast daran verzweifelt, dass seine Provokation nicht gehört wird – ein Umstand, der in der Beurteilung des Projekts oft nicht verstanden wurde, wo immer eine Katharsis eingefordert wurde. Für mich war das nie ein Thema und es ist auch der böse Witz der Sache, der sich direkt aus der Realität ableitet. Ich glaube auch, dass Aristoteles in unserer Zeit ausgedient hat, weil die Katharsis ein Märchen ist, das meist nicht zutrifft. Auch nach der Milliardenpleite bleibt Benko selbst Milliardär.
 
 
Ihre Hauptfigur ist ein erfolgreicher Investor, der zum Zeitvertreib ohne große Bemühung um Vertuschung wahllos auf Menschen schießt und nicht gestellt wird. Was treibt ihn an? Galt es beim Schreiben ein Bild für maximalen Zynismus zu finden?
 
DANIEL HOESL:
Maynard tut ja eigentlich alles dafür, dass er endlich gestellt wird. Wir wissen doch alle, dass es Steueroasen gibt, dass es eine Vermögenssteuer, eine Transaktionssteuer geben könnte, wir wissen, was in Liechtenstein passiert, Millionen an Europäern entgehen Milliarden an Steuergeldern in einem Kleinstaat und wir lassen es einfach zu. Leute wie unser Protagonist nutzen das einfach aus.
 
 
Das klingt jetzt fast so, als würden die Reichen darauf warten, endlich besteuert zu werden.
 
DANIEL HOESL:
Ich möchte damit sagen, dass wir es in der Hand haben. Sie könnten nicht alle Jobs ins Ausland verlagern, irgendetwas an Arbeit muss auch hier bei uns passieren. Ich halte es für eine leere Drohung zu sagen, dass wir unsere Wettbewerbsfähigkeit verlieren. Die Schweiz ist auch wettbewerbsfähig. Es kostet dort alles viermal soviel, es liegt aber auch daran, dass die Leute viermal soviel verdienen.
 
 
Ihr superreicher Protagonist ist ein passionierter Familienmensch. Er ist für seine Kinder da, er begehrt seine um einiges ältere Frau und will noch unbedingt mit ihr einen Nachkommen seiner Spezies in die Welt setzen. Ist Familie das einzige soziale Umfeld, das er benötigt?
 
JULIA NIEMANN:
Ursprünglich hieß der Film ja Vikinger und zwar deshalb, weil die Wikinger während ihren brutalen Raubzügen ganze Landstriche erst plünderten und dann niederbrannten und deren Einwohner versklavten. Aber danach kehrten sie zurück zu ihren Großfamilien, die für sie das Wichtigste waren. So ist auch unser Protagonist, seine Familie ist ihm das Allerwichtigste. Das größte Anliegen ist ihm, dass er alles, was er hat, in der Familienlinie weitergeben kann. Der einzige Moment, in dem unser allmächtiger Protagonist antastbar und verletzlich ist, ist der, wo seine Frau droht, das Baby zu verlieren.
 
 
Wie sind Sie dieses Mal, wo die Besetzung nicht Teil der Recherche war, bei der Suche nach den Hauptdarsteller:innen vorgegangen?
 
DANIEL HOESL:
Ursina Lardi stand für mich schon lange fest, weil sie als Graubündnerin diese Welt sehr gut kennt, nachdem sie mit einem sehr wohlhabenden Mann liiert war. Unsere tolle Casterin Martina Poel hat dann Laurence Rupp aus dem Ärmel geschüttelt. Laurence ist ein liebenswürdiger Mensch, der ausgezeichnet mit Kindern umgehen kann und den viele Menschen sofort ins Herz schließen. Wir haben jemanden gebraucht, der authentisch sympathisch ist. Er ist ein Schauspieler, der von Ruth Beckermanns Die Geträumten bis der Serie Barbaren ein sehr breites Spektrum abdeckt. Ich glaube, es ist ihm leicht gefallen, einen Milliardär zu spielen.
 
JULIA NIEMANN: Ich glaube, es ist mitunter das Schwierigste, einen Menschen zu spielen, der praktisch keinerlei Problemen begegnet, der immer auf der Gewinnerseite steht, der immer gut gelaunt ist. Da gibt es nicht viel, an dem man sich als Schauspieler abarbeiten kann. Laurence hat sicher auch irgendeinen Konflikt, irgendeine Psychologie dahinter gesucht. Das haben wir ihm alles verwehrt und das war sicherlich eine Herausforderung für ihn. Wir finden, er hat das außerordentlich gut gemeistert. Die große Entdeckung, auf die wir besonders stolz sind, ist Olivia Goscher, die die Paula spielt. Es war ihr erstes Mal vor der Kamera. Sie war super aufnahmefähig und hat im Laufe des Drehs gelernt, Polo zu spielen, eine Waffe zusammenzubauen, zu schießen.
 
DANIEL HOESL: Olivia hat in wenigen Stunden von einem ehemaligen DDR-Grenzsoldaten, der seit Jahrzehnten mit dieser Waffe zu tun hat, gelernt, wie man eine Kalaschnikow zerlegt und zusammenbaut und zu seinem wirklichen Schock war sie innerhalb kürzester Zeit schneller als er.
 
 
Die Welt der Superreichen zu erzählen, sieht auch nach einem Fest für Setdesign und Kostüme aus. Wie haben Sie mit wahrscheinlich knapp bemessenen Budgetmitteln diese Welt kreiert?
 
JULIA NIEMANN:
Basierend auf unserer jahrelangen Recherche im Milieu der Milliardäre haben wir die Welt versucht so darzustellen, wie sie ist. Es sieht bei ihnen ganz anders aus als bei Millionären. Sie haben es nicht nötig, ihren Wohlstand und Besitz nach außen hin zu präsentieren. Sie leben immer im Understatement, so haben wir auch versucht, im Film den diesen Quiet Luxury-Ton zu treffen. Gleichzeitig haben wir mit unserem Kameramann Gerald Kerkletz im Visuellen daran gearbeitet, einen hyperrealistischen Ton zu treffen. Bei den Maynards scheint immer die Sonne, so tut es das auch bei uns im Film.
 
DANIEL HOESL: Mit dem Setdesigner Hannes Salat haben wir natürlich versucht, die besten Orte zu finden, die wir gekriegt haben. Wir kennen inzwischen alle guten Hotels, Restaurants und Banktresore in Ostösterreich. Es gab wegen der Architektur auch eine Überlegung in Vorarlberg zu drehen, wir sind aber dann im Palais Rasumovsky, dem größten Privathaus Österreichs in Wien gelandet, wo wir nach viel Überzeugungsarbeit im ganzen Haus drehen durften. Dafür sind wir sehr dankbar.
 
 
Der Film ist dem Titel entsprechend in drei Kapitel strukturiert. Wo lagen im Schnitt die Herausforderungen, mit der Spannung zu arbeiten?
 
JULIA NIEMANN:
Wir mussten aus Budgetgründen mit den Drehtagen runtergehen, was die Erzählung etwas verkompliziert hat. Der Film hat im Schnitt funktioniert, wir standen allerdings schnell vor der Frage, wie wir ihm noch eine weitere Ebene hinzufügen könnten? Daher haben wir mit neuen Dingen experimentiert. Wir kamen auf die Idee, dass Paulas Voiceover die Geschichte gut bündeln könnte. Dieses Voiceover zu integrieren und zu schreiben war gewiss die größte Herausforderung im Schnitt. Der Titel bildet ja auch das Narrativ des Films ab – die Familie, die immer gewinnt. Unsere Grafiker fanden, dass wir diese Dreierstruktur auch grafisch noch stärker hervorheben sollten.

 
Das Ende ist ein recht pessimistisches, die Familie Maynard wird weder vom Gesetz noch vom Schicksal in die Schranken gewiesen. Was erzählt es uns, auf unsere wirtschaftliche Realität umgelegt?
 
DANIEL HOESL:
Ich halte es gar nicht für so zynisch. Die Haltung des Films ruft alle, die zuschauen auf, endlich aufzuwachen und ihr Schicksal in die Hand zu nehmen.
 
JULIA NIEMANN: VENI VIDI VICI ist ein Wake-up-Call, es hat eben kein zynisches „Es wird sich nie etwas ändern“-Ende, sondern die Schlussfolgerung lautet vielmehr: Wenn sich nicht bald etwas ändert, dann ist das unsere Realität. Ich sehe das sogar schon jetzt.  Wenn wir den Superreichen nicht das Handwerk legen, dann kann es jeden von uns treffen. Weder der Arbeitsplatz noch die privateste Familiensituation sind davor geschützt.
 
 
Wo sehen Sie Handlungsmöglichkeiten für den Einzelnen?
 
DANIEL HOESL:
Man muss aufstehen, sich engagieren, formulieren, wofür man steht. Es gibt sehr reiche Leute, die selber fordern, besteuert zu werden. Es ist keine gute Idee, dass ihr Geld in Stiftungen wandert, das ihnen wieder selber zugute kommt. Das Geld muss der öffentlichen Hand zugänglich werden. Wir müssen unsere Politiker dazu zwingen. Es kann ja nicht sein, dass die Sozialdemokraten gegen eine Vermögenssteuer sind, dass Österreich eines der wenigen Länder ist, in dem es keine Erbschaftssteuer gibt. Alle wissen alles, aber niemand tut etwas. Das maximal Vorstellbare ist ein Gewerkschaftsstreik. Es geht immer nur darum, den Zustand ungefähr zu erhalten und nicht im bigger picture zu denken. Wir beide sind hier, weil wir für unsere Ausbildung nichts zahlen mussten und weil wir ein Sozialsystem haben, das uns medizinisch versorgt und uns erlaubt, mit Steuergeld Filme zu machen. Deshalb ist dieser Film unser Akt der Rebellion. Denn ja, es ist ja paradox. Wir verwenden die Rhetorik der Superreichen, um eine Irritation bei den Kinobesucher:innen auszulösen. Die Mittelschicht zerbröselt und arbeitet sich dumm und deppert, um sich bald das Leben nicht mehr leisten zu können. Es wird klar, dass die Leistungsgesellschaft eine Lüge ist. Wie war das vor hundert Jahren in der Sozialdemokratie? Da gab es in jedem Haus ein Theater, wo darüber gesprochen wurde, wie man die Gesellschaft ändert. Wir haben überhaupt kein Bild mehr davon, was Gesellschaft bedeutet. Der Individualismus, der philosophisch betrachtet unsere Gesellschaft dominiert, ist genau der, der auf Ayn Rands Schriften aufbauen könnte: Individualismus, Thatcherismus. Wir haben das zugelassen. Wie kann es sein, dass behauptet wird, man betreibe Handel und schaffe dadurch Frieden. Man handelt mit den ärgsten Diktatoren, wie den Saudis oder mit Vladimir Putin. Wenn wir nicht aufstehen und sagen „Nicht mit uns!“, dann fahren die über uns drüber. Wir sind das Sonderangebot. Wir sind die Deppen, die es geschehen lassen.
 
 
Wo sehen Sie konkrete Ansatzmöglichkeiten?
 
DANIEL HOESL:
Man muss beginnen über Umverteilung zu sprechen. Und darüber, was Arbeit in einer Zeit bedeutet, wo Künstliche Intelligenz dominiert. Was bedeutet, ganz abstrakt gesagt, „Gesellschaft“? Adam Smith hat gesagt, es kann nur zu mehr Wohlstand kommen, wenn es auch den Nachbarstaaten gut geht. Auf das Individuum runtergebrochen heißt das, es kann nur mir gut gehen, wenn es auch den anderen gut geht.
 
JULIA NIEMANN: Übrigens ist das Wort Neiddebatte in diesem Zusammenhang ein sehr schwieriger Begriff.  Ich halte diesen Neid für produktiv, die Wut, die daraus hervorkommt, wenn wir sehen, dass wir selbst mit härtester Arbeit einen gewissen Lebensstandard, den andere haben, niemals erreichen könnten. Wir brauchen diese Wut in unserer Gesellschaft.
 
 
Man hört immerhin leichte Hoffnung aus Ihren Worten.
 
DANIEL HOESL:
Ich sehe schon eine Hoffnung, weil auch viele reiche Leute dieses Drehbuch gelesen haben und sagen, „So ist es.“ Es ist den Leuten bewusst, dass sie über dem Gesetz stehen. Wenn man eine größere Firma besitzt, dann kennt man schon die Politiker, die auch von einem abhängig sind, weil Arbeitsplätze benötigt werden und so beginnt bereits auf kommunaler Ebene die Macht. Man stelle sich erst die Macht von jemandem wie Nikolaus Bergengruen vor, dem früher u.a. Burger King gehört hat. Wir kümmern uns um diese Themen, weil wir schon so viele Sozialdramen gesehen haben, die nichts gebracht haben. Mitleidskino ist vielleicht weniger irritierend als eine zynische Milliardärsfamilie.


Interview: Karin Schiefer
Dezember 2023


«Ich glaube auch, dass Aristoteles in unserer Zeit ausgedient hat, weil die Katharsis ein Märchen ist, das meist nicht zutrifft.»